Deleted Scene: Shelter Me

Eineinhalb Jahre zuvor

21. August

 

"Pass auf dich auf, ja?", sagt mein Bruder und gibt mir einen Kuss auf die Stirn.

Ich lächle matt. "Dazu habe ich doch dich."

Calvin schließt die Augen und wendet sich von mir ab. Seine Schuldgefühle werden ihn bis in alle Ewigkeit verfolgen. Ich habe wirklich gehofft, am College würde es besser werden ... Vielleicht ist es doch ein Fehler gewesen herzukommen. Vielleicht hätte ich ihn allein hierlassen sollen.

Aber ich habe es nicht mehr ausgehalten in Quebec. Eigentlich liebe ich meine Heimat - wirklich. Aber nach dem, was vor zwei Jahren passiert ist, war es eine Qual, dort zu bleiben ... Und wenn der Neustart für Calvin funktioniert hat, warum dann nicht auch für mich?

"Lass uns nicht zu lang bleiben", sagt er, und öffnet seine Zimmertür. Ich nicke und trete in den Flur. Er lebt in einer WG mit drei anderen Hockeyspielern aus seinem Team. Aber ich habe nicht den Eindruck, als würden sie sich besonders nahestehen. Mein Bruder ist nicht gut in sozialen Gruppen. Dazu ist er zu schüchtern und das ist ihm peinlich und dann verhält er sich awkward.

Ich seufze und lasse mich von ihm in Richtung in Terrasse schieben. Dort empfängt mich der Geruch nach verbranntem Tierfett und ich ziehe unwillkürlich die Nase kraus. Ich hatte nie die Chance Vegetarierin aus Überzeugung zu werden - weil ich den Geruch von gebratenem Fleisch schon mit elf oder zwölf nicht gemocht habe. Ich kann nicht einmal sagen warum, für mich roch es einfach schon immer merkwürdig und irgendwann habe ich aufgehört, es zu essen.

Zwischen den Rauchschwaden am Grill taucht ein Gesicht mit schwarzen Dreadlocks auf. Sie sind gerade lang genug, dass sie dem breitschultrigen Jungen über die Augen fallen, während er uns breit angrinst und eine Hand nach meinem Bruder ausstreckt. Kurz sehe ich Calvin zögern, dann schlägt er lächelnd ein und lässt sich in einen knappen Bro-Hug ziehen, bevor er auf mich deutet: "Rob, das ist Rosalie, meine Schwester. Rosalie, das ist der beste Teamcaptain der NCAA."

Rob lacht und schlägt sich eine Hand auf die Brust. "Nur nicht zu viele Komplimente, bitte, die sind nicht gut für mein Ego." Dann wendet er sich an mich und grüßt mich mit umständlichem Handschlag. Als hätte er eine so förmliche Geste zwischen all den Jungs bereits halb verlernt.

Ich bemühe mich um ein Lächeln und fahre mir mit den Händen unsicher über sie Oberarme, während ich hinüber zu den anderen im Team sehe. In der Nähe des Grills stehen noch zwei Jungs, die Cal gerade mit knappem Nicken begrüßt, und mehrere sitzen am Tisch und streiten sich darum, wie man am umständlichsten eine Flasche Bier öffnet ... Ein paar andere spielen Football und lassen mich hoffen, dass sie sich auf dem Eis geschickter anstellen. Etwas abseits sitzt jemand auf einem Baumstamm vor dem Holzhaufen, der später sicher einmal ein Lagerfeuer werden soll. Im Vergleich zu Übrigen wirkt er jünger. Schmächtiger und kleiner. Vielleicht ist er auch an die AU gekommen, weil sein älterer Bruder hier Hockey spielt, und den die Jungs zum Kennenlernen eingeladen haben. Dann wäre ich nicht die Einzige ...

"Und was willst du studieren?", fragt Rob.

Ich hebe die Augenbrauen und wende meine Aufmerksamkeit wieder meinem Gegenüber zu. "Architektur."

Er grinst. "Verstehe. Wie dein Dad."

Interessiert sehe ich zu meinem Bruder hinüber. Denn normalerweise erzählt Cal nicht viel. Über sich. Oder über unsere Familie. Aber er sagt nur: "Du hast ein gutes Gedächtnis, Rob."

Jener hebt einen Mundwinkel und zuckt mit den Schultern. "Mein Team ist mir wichtig. Steak?"

Cal nickt. "Unbedingt sogar." Dann dreht er sich zu mir und sagt auf Französisch, dass es in der Küche vegetarische Salate gibt, Baguette und Grillgemüse.

Ich winke ab. "N'a pas d'probleme."

"Wow, jetzt haben wir gleich zwei davon", sagt jemand hinter mir, und als ich mich herumdrehe, stolziert ein großer, blonder Typ zu uns herüber. Er bleibt direkt vor mir stehen und mustert mich von oben herab. Ich recke das Kinn. Klein bin ich nicht - aber neben Hockeyspielern fühle ich mich trotzdem noch wie eine Zwölfjährige. Auch wenn meiner Erfahrung nach häufig sie diejenigen sind, die sich auch aufführen wie welche.

"Zwei wovon, Luca?", fragt Cal neben mir leise.

Luca grinst und schnipst mir mit einem Finger gegen die Schulter. "Entspann dich, Calvin. Sie ist süß. Aber ich bin ja nicht Quinn." Er zwinkert mir zu.

Und ich sage: "Sie mag dich nicht besonders."

Er lacht. Dann deutet er auf mich und sagt: "Ich mag sie."

Ich verschränke nervös die Arme vor der Brust und sehe ihm nach, wie er wegstolziert.

Connard.

"Ihr zwei", setzt Rob an und wedelt mit seiner fetttriefenden Grillzange zwischen uns hin und her, "Müsst euch ein dickeres Fell wachsen lassen. Nicht alle hier sind so liebreizend wie oben in Kanada."

Cal schnaubt, murmelt "Was weißt du schon", und greift nach meiner Hand. "Komm, ich stelle dir die wenigen nicht-Idioten vor."

Ich seufze. "Wie viele sind das? Zwei?"

Er verzieht das Gesicht. "Paul und Jackson. Rob gehört eigentlich dazu, aber du hast ihn ja gehört: bei ihm kommt immer das Team zuerst. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob er überhaupt mit irgendwem von uns befreundet wäre, wenn er es nicht sein müsste."

Ich runzle die Stirn. "Das klingt anstrengend."

"Ist es vermutlich auch."

Die zwei Jungen am Tisch lächeln uns entgegen. "Deine Freundin?", mutmaßt einer von ihnen, und allmählich frage ich mich wirklich, ob Calvin irgendwen aus der Truppe näher kennt. Außer diesem Rob vielleicht. Der weiß immerhin, was Dad mal studiert hat – auch wenn er genau genommen das Studium abgebrochen hat. Aber die zwei vor mir wissen nicht einmal, dass "Calvin" und "Freundin" zwei Worte sind, die man eigentlich nicht im selben Satz verwendet. Sein Frauengeschmack ist gelinde gesagt fragwürdig und ich bezweifle, dass er in den letzten Jahren ein Mädchen auch nur ein zweites Mal angesehen hat ...

"Meine Schwester", antwortet Calvin und stellt mir die beiden Jungs vor, die jetzt leicht verlegen lächeln.

Ich setze mich auf einen der Stühle und beginne, Häppchen von einer Scheibe Brot abzureißen, während die Jungs in Geplänkel über Hockey verfallen. Abwesend sehe ich zum Lagerfeuer hinüber, und begegne unwillkürlich einem Blick aus dunklen Augen. Und sehe weg. Weil ich das bedauerlicherweise immer tue, wenn ich mich dabei erwischt fühle, jemanden zu beobachten ... Dann schäme ich mich dafür, recke das Kinn und sehe aus Prinzip wieder hin.

Aber als ich das tue, grinst mich der Typ breit an. Dabei entblößt er ein Grübchen, auf der linken Seite. Es ließe ihn jünger aussehen, wenn das Grinsen nicht so breit und fast möchte ich sagen schmutzig wäre ... Ich glaube, ich habe noch nie jemanden so unverhohlen grinsen sehen. Dabei kenne ich ihn gar nicht.

Ich sehe weg.

Und kurze Zeit später wieder hin.

Aber da ist er verschwunden.

Ich schüttle den Kopf – über mich selbst, weil ... ich mich albern aufführe.

Im selben Moment zieht jemand den Stuhl mir schräg gegenüber zurück. Und als ich aufblicke, grinst er mich schon wieder an. Stiller dieses Mal. Verschwörerischer.

Ich sehe demonstrativ woanders hin. Straffe mich. Weil diese Art Kerl nur Ärger macht. Und ich mutiere in ihrer Anwesenheit jedes Mal zu einem willenlosen Püppchen, das sich vom großen, bösen Wolf angezogen fühlt ...

Ich seufze und stochere im Kartoffelsalat herum, bis mein Bruder fragt: "Alles okay?"

Ich nicke und setze ein Lächeln auf. "Ben sûr."

"Wir können nach dem Essen gehen, wenn du möchtest."

"Ach, Quatsch", mischt sich der Typ ein, der auf Calvins anderer Seite sitzt. "Das Semester fängt erst in drei Tagen an, bis dahin müssen wir die Zeit noch ausreizen. Immerhin haben wir jetzt nicht mal mehr Training." Er grinst breit und schaufelt sich so viel Essen auf seinen Teller, dass ich davon vermutlich eine ganze Woche leben könnte. Der Geschwindigkeit nach zu urteilen, mit der er sie verschlingt, scheint er es innerhalb von zwei Minuten verputzen zu wollen ...

Ich verziehe das Gesicht und wende den Blick ab. Was ein Fehler ist, denn auf der Suche nach besserer Aussicht landen meine Augen schon wieder auf ... Ich weiß nicht, wie er heißt. Ich sollte es auch nicht wissen wollen. Aber ich scheitere bereits daran, nicht hinzusehen. Nicht immer wieder hinzusehen. In ein Gesicht, das zu rau ist, um noch hübsch genannt zu werden. Und einen Ausdruck darauf, der zu verwegen ist, um nicht offensichtlich Ärger zu bedeuten.

Ich reibe mir nervös mit den Handflächen über die Knie, und zwinge mich dazu, mich aufs Essen zu konzentrieren.

Aber schon nach einer knappen Stunde ist meine Schonfrist vorbei, als Rob meinen Bruder fragt, ob er mit Football spielen würde. Jener wirft mir einen fragenden Blick zu, aber ich schicke ihn mit den anderen los. Mein Bruder ist ein Sport-Ass. In jeder Hinsicht. Wenn nicht Hockey so beliebt in Kanada wäre, würde er jetzt vermutlich Basketball oder Football in einer Division spielen ... Aber wenigstens findet er darüber Anschluss. Er ist nicht mehr "Crazy redhead Olivier". Und der Sport gibt ihm viel. Hockey bedeutet ihm alles.

Ich verziehe mich hinüber auf den Baumstamm, der umgekippt als provisorische Bank vor dem Lagerfeuer liegt. Niemand sitzt dort, und es ist wirklich schön hier. Nur wenige Schritte von mir entfernt beginnt ein kleines Waldstück. Ich glaube, dahinter liegt ein See, und wenn man noch viel weiter geht, irgendwann das Meer. Aber ich bin mir nicht sicher. Auf jeden Fall will ich es irgendwann herausfinden.

Ich höre das leise Rascheln von Kleidung hinter mir und blicke auf. Aber er schenkt mir keine Beachtung. Er. Derselbe Er von vorhin. Nur, dass er es dieses Mal wenigstens nicht zu bemerken scheint, dass ich ihn anstarre. Er krempelt seine Ärmel hoch und entblößt tätowierte Unterarme. Aus irgendwelchen Gründen hatte ich das nicht erwartet. Vor allen Dingen nicht so. Weil es keine großen, raumeinnehmenden Bilder sind. Sondern Ansammlungen feiner Linien, die gemeinsam ein Ganzes formen. Links sind es nur drei Ringe, wie Armreifen, rechts zieht sich ein langes Muster über den gesamten Unterarm bis fast zu seinem Handgelenk. Ich weiß nicht, was es darstellt, weil ich nur die Außenseite sehen kann. Aber aus der Ferne erinnert es mich an eine stilisierte Landschaft. Baumwipfel, Berghänge, ein Nachthimmel mit Sternen. Mir ist es zu dunkel. Zu schwarz. Trotzdem gefällt es mir. Und ist nicht unbedingt das, was man jeden Tag sieht. Keine Kopie aus einem Lookbook beim Tattoo-Artist an der Ecke. Und die drei Ringe auf der anderen Seite erinnern mich an etwas. Aber ich weiß nicht mehr woran. Andererseits ist es vermutlich auch kein sonderlich seltenes Symbol ...

Es ist ein bisschen hypnotisch, wie sich die Linien zu bewegen scheinen, als er mit den Händen kleine Äste zerbricht und an den Rand der Feuerstelle fallenlässt. Als würden die Bilder ein Eigenleben entwickeln.

"Hast du genug gesehen oder soll ich mir das Shirt ganz ausziehen?", fragt er, und setzt sich neben mich.

Ich zucke zusammen, rücke von ihm ab und lächle brüchig. "E-entschuldige. Ich wollte nicht starren. Wirklich nicht!"

Er lächelt schief, sieht mich von der Seite an dabei. Es könnte beiläufig wirken, wenn sein Blick mir nicht das Gefühl geben würde, als sehe er so viel mehr als nur mein Äußeres. Als hätte er meine Gedanken ertappt. "Schon okay." Er wirft einen letzten Zweig zwischen die groben Holzscheite. "Hast du ein Feuerzeug?"

Ich schüttle den Kopf.

Er sieht an mir vorbei in Richtung Haus. Dann seufzt er, greift sich einen der breiten Holzscheite, geht hinüber zum Grill, nimmt zwei Kohlestücke heraus, legt sie auf das Scheit und trägt sie herüber. Der Rauch kräuselt sich noch darüber, als er wieder neben mir steht und das Scheit zwischen die kleinen Zweige schiebt. Er bläst vorsichtig Luft zwischen die Ästchen, bis er sich wieder neben mir fallenlässt. Seine Fingerkuppen sind schwarz von Asche und er wischt sie nachlässig an seiner Jeans derselben Farbe ab.

"Ist das nicht heiß?", frage ich. Obwohl ich mir dumm dabei vorkomme.

Er schiebt einen heruntergefallenen, angekokelten Zweig mit dem Fuß zurück zu den anderen. "Doch. Aber Schmerz vergeht. Tut er immer. Irgendwann." Er hebt den Kopf und blinzelt mich an. Mir zieht ein Schauer über den Rücken. Weil ich plötzlich die Befürchtung habe, er könnte mich vielleicht wirklich kennen. Mehr über mich wissen, mehr in mir sehen, als ich glaube.

"Entschuldige, kennen wir uns ... irgendwoher?", frage ich nervös und schlinge die Hände um meine Taille.

Er schüttelt den Kopf. "Nein. - Nicht, dass ich wüsste. – Ich komme aus Montana. Und du bist Calvin Oliviers Schwester, oder nicht? Du bist aus ... Quebec?"

Ich nicke. "Montréal."

"Montréal", wiederholt er leise. Auf dieselbe Art, wie ich es getan habe: französisch. Mit stummem T. Es geht ihm leichter von der Zunge als den meisten US-Amerikanern, denen ich begegnet bin. Auch wenn er das R nicht korrekt aussprechen kann.

"Wechselst du auf die AU?", fragt er.

"Ja", antworte ich zögerlich. Ich bin mir nicht sicher, ob ihm bewusst ist, dass ich gerade erst 18 geworden bin. Meine Größe täuscht über mein Alter hinweg. Und er ist etwas kleiner als ich. Nicht viel. Vielleicht ein paar Zentimeter.

"Ja ...?", wiederholt er wieder. Dieses Mal mit schief-provokantem Grinsen auf den Lippen. Ich mag seinen Mund. Jede Frau könnte neidisch darauf sein, weil seine Lippen voll sind und sein Amorbogen definiert. Man müsste nichts überzeichnen, nichts kaschieren. Es ist längst perfekt.

Crìss, ich habe ihn schon wieder angestarrt ... "Studium! Ich fange hier an. Erstes Semester."

Er nickt.

Ich hefte meinen Blick auf das Feuer. Inzwischen lecken die Flammen an den größeren Holzscheiten. Sein Versuch mit der glühenden Kohle ist also aufgegangen.

Er schweigt. Ich ertrage es kaum. Weil seine Nähe so laut ist. Mein eigener Herzschlag kommt mir laut vor. Ich könnte schwören, dass sogar das Kribbeln in meinen Fingern einen Laut verursacht. Und als er sich plötzlich zu mir hinüberlehnt, das Astende zu meinen Füßen greift und tiefer ins Feuer schiebt, bin ich mir sicher, dass er meinen scharfen Atemzug hat hören müssen.

Ich bin wirklich leicht zu beeindrucken ... Das war schon immer so. Irgendein halbwegs attraktiver Junge taucht auf und mein Körper hat sich nicht mehr unter Kontrolle. Es ist furchtbar. Weil ich mich nicht mehr unter Kontrolle habe. Nichts an mir. Und immer sind es ... die Falschen. Diejenigen, die kein Interesse an mir haben. Nicht wirklich. Nur daran, für wenige Stunden die hübsche Olivier-Tochter zu ... was-auch-immer ... Und es dann ihren Freunden zu erzählen. Oder ihnen Fotos zu zeigen ...

"Woran denkst du, das dich so verletzt aussehen lässt?", fragt er.

"Ich, ähm ... Ich sollte gehen", sage ich schnell, straffe mich, will aufstehen, aber seine Hand versperrt mir den Weg. Er berührt mich nicht. Weil er auf halbem Weg in der Bewegung innegehalten hat. Seine Finger schweben Inches über meinem Knie. Was mich tatsächlich zurückhält ist sein Blick.

Und meine Überraschung über sein Verhalten: "Bleib. Bitte. Erzähl mir ... wovon auch immer du möchtest", sagt er, "Ich kenne hier absolut niemanden und du bist der erste sympathische Mensch, der mir über den Weg gelaufen ist."

Ich blinzle. Weil ich damit nicht gerechnet habe. Mit nichts davon. Weder, dass er Schwäche offenbaren würde noch, dass er meine Grenzen respektieren würde noch, dass er ehrliche Zuneigung äußern würde. Ich atme aus, spüre die Spannung aus meinen Schultern weichen und sehe nervös ins Feuer, zu ihm zurück und wieder in die Flammen.

Vielleicht habe ich mich in ihm getäuscht. Vielleicht ist er überhaupt nicht der, für den ich ihn gehalten habe. Vielleicht habe ich ihm Unrecht getan, und alles, was er sucht, ist irgendjemand, mit dem er sich unterhalten kann. Weil er sich hier genauso verloren fühlt wie ich.

"Okay", sage ich, streiche mir eine Strähne hinters Ohr und frage: "Dann ... Wie heißt du?"

Er lacht leise. Ein weicher, angenehmer Klang. Und er offenbart wieder das Grübchen dabei. In seiner linken Wange. "Jay. Ich heiße Jay." Dann schnippt er mit einem Finger spielerisch gegen meinen Oberschenkel und fragt: "Und du?"

"Rosalie. Du kannst Rose sagen, wenn du möchtest." Ich beiße mir auf die Zunge. Denn eigentlich nennen mich nur meine Freunde so. Und davon habe ich nicht besonders viele. Im Grunde nur Catalina ...

"Rose", wiederholt er, und lächelt, "Passt zu dir."

"Ja, das sagen alle ..."

Er hebt eine Augenbraue. "Alle?"

Ich schlinge nervös einen Arm um meine Taille. "Du weißt schon ... Menschen, die man eben trifft."

Jay nickt zögernd. Aber er sagt nichts mehr. Nur dass ich die Stille dieses Mal nicht als unangenehm empfinde oder drückend. Bis: "Also, Rose, an welchen Ort wolltest du schon immer einmal reisen, hast es aber bisher nie getan?"

Seine Frage lässt mich schmunzeln. "Wie kommst du darauf?"

Er zuckt mit einer Schulter. "Du kommst sicher viel herum. Mehr als ich mit Sicherheit. Vermutlich hast du viele Orte schon gesehen, die man mal gesehen haben muss - New York, D.C., die Niagara-Fälle. Europa! Die Große Mauer, Sydney, ..."

Jetzt muss ich lachen. "So viel habe ich auch noch nicht gesehen. In Sydney war ich noch nie, die Große Mauer habe ich nie besucht. Aber ich war mal in Südkorea."

"Siehst du. Da bin ich nicht mal draufgekommen. War bestimmt cool dort."

"Ja, war es wirklich."

Er grinst. Schief. Mit dem rechten Mundwinkel. Knapp darunter hat er eine kleine Narbe. Direkt über dem Kieferknochen. "Aber danach habe ich dich nicht gefragt."

Ich blinzle, muss mich an seine Worte erinnern, bevor ich antworte: "Oh, was ich gerne sehen möchte? - Ich weiß nicht. Es gibt so viele spannende Orte. Die Maya-Pyramiden in Südamerika oder eine der alten Inka-Städte. Das fasziniert mich. Nicht wegen der Architektur - ich meine das kulturelle. In Spanien gibt es einen Ort, den man das Ende der Welt nennt, weil die Europäer vor Kolumbus davon ausgegangen sind, dass es dort nicht weitergeht. Das ist ein faszinierender Gedanke, auch wenn er zeigt, wie ... merkwürdig das Weltbild der Menschen damals war."

"Das Weltbild der Europäer", korrigiert er.

Ich lege die Stirn in Falten, weil die Bemerkung mich irritiert. Weil ich die Nachfahrin von Europäern bin. Wie die meisten Amerikaner …

Aber Jay hat schwarze Haare und seine Haut hat einen warmen Braunton. Im Gegensatz zu meiner.

"Woher kommst du?", frage ich.

"Montana."

"Nein, ich meine ... deine Eltern?"

"Montana."

Ich mustere sein Gesicht. Weil der Gedanke in mir aufglimmt, dass ich möglicherweise gerade etwas sehr Dummes gefragt habe. Nur sieht er mich nicht an, als hätte ich das getan. Weder wirkt er genervt noch verärgert. Ein bisschen amüsiert vielleicht.

"Entschuldige, das war dumm ...", sage ich trotzdem.

Er schüttelt den Kopf. Sein Mundwinkel zuckt. "Es ist doch bloß eine Frage. Entschuldige dich nie fürs Fragen."

Die Antwort, das wonach ich gesucht habe, seine Herkunft, bleibt er mir trotzdem schuldig. Und entgegen seinen Worten wage ich es auch nicht, ihn ein weiteres Mal zu fragen. Stattdessen will ich wissen: "Und du? Wo möchtest du gern einmal hin?"

Er wiegt den Kopf. "Ich habe Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen. Manchmal Alaska, manchmal Shanghai."

Ich muss lachen. "Alaska oder Shanghai?"

Seine Mundwinkel zucken wieder. Dieses Mal sind es beide, und seine Augen blitzen auf dabei. Aber dann wendet er den Blick von mir ab, sieht ins Feuer und antwortet zögerlich: "Ja. Manchmal will ich nur an einem Ort sein, wo niemand sonst ist. Irgendwo weit weg." Für den Bruchteil einer Sekunde sieht er mich an. Dann konzentriert er sich wieder darauf, Zweigenden ins Feuer nachzuschieben, "Und manchmal will ich Rummel um mich. Viele Menschen. Tausend Lichter in der Nacht. Partys. So was halt."

"Das kann ich gut verstehen", sage ich, und ernte einen überraschten Blick mit skeptisch erhobener Augenbraue.

"Ich tanze gerne", erkläre ich, "Es gibt mir ein gutes Gefühl. Man kann dir Seele baumeln lassen und einfach nur man selbst sein. – Aber ich bin auch gern allein."

Er lächelt. Ein winziges, schmales Lächeln, das mich vermuten lässt, dass er es nicht oft genug tut – lächeln.

 

"Es dämmert", sage ich irgendwann, als die Sonne schon halb hinter den Baumwipfeln verschwunden ist und wir gewiss Stunden damit verbracht haben, einfach nur nebeneinander vor dem knisternden Lagerfeuer zu sitzen und zu reden.

Er folgt meinem Blick, mustert dann meine Hände, mit denen ich die Gänsehaut auf meinen Oberarmen zu vertreiben suche.

"Ist dir kalt?"

"Ein bisschen. Am Feuer geht es."

"Warte kurz", sagt er, steht auf und verschwindet in Richtung Haus.

Ich sehe ihm nach, und dann hinüber zu den anderen, eine Hälfte von ihnen rauft sich noch immer um den Football, die andere ist ein weiteres Mal übers Essen hergefallen.

Jay kehrt kaum eine Minute später mit neuem Feuerholz, einer großen Flasche Wasser und einer Lederjacke unterm Arm zurück. Letztere legt er mir um die Schultern, bevor er sich hinkniet und zwei Scheite nachlegt.

"Du bist ganz anders, als ich erwartet habe", gebe ich zu.

Aus dem Feuer stieben Funken und Rauch in die Dämmerung. Er antwortet nicht. Stattdessen setzt er sich stumm neben mich auf den Baumstamm. Näher als zuvor. Spätestens jetzt hüllt sein Duft mich vollkommen ein.

Das Schwindelgefühl in meinem Magen kehrt mit voller Wucht zurück. Als würde mir übel und es wäre der schönste Zustand aller Zeiten. Ich ziehe meine Knie an und schlinge die Arme darum, auch wenn ich dabei den Halt auf dem runden Baumstamm zu verlieren drohe.

Jay sieht mich an, hebt im selben Moment die Flasche an seine Lippen und ich wende den Blick von ihm ab. Bis er sie mir hinhält. Ich blinzle auf die Flaschenöffnung. Mir wird warm und ich greife den angebotenen Gegenstand fester, als ich müsste, murmle ein "Danke" und trinke ebenfalls.

Als ich die Flasche wieder absetze, begegne ich seinem Blick. Er mustert mich. Eindringlich. Dann hebt er affektiert eine Hand, die Finger um etwas verschlossen wie ein Straßenzauberer. Ich hebe die Augenbrauen und er präsentiert mir den Inhalt: den Flaschendeckel. Ich muss lachen, nehme ihm das Ding ab und verschließe die Flasche wieder. Jay beobachtet mich. Er lächelt nicht - nicht mit dem Mund. Aber seine Augen tun es. Mit Schalk und Wärme zu gleichen Teilen.

Ich senke das Kinn. Meine Nasenspitze streift das Leder seiner Jacke. Es ist glatt und kühl.

Hinter mir kichert jemand. Ich blicke überrascht auf, als zwei der Jungs auftauchen, jeder ein Mädchen am Arm. Ich wusste nicht einmal, dass die anderen Studenten schon hier sind. Die meisten reisen erst unmittelbar vor Semesterbeginn an.

Ich räuspere mich nervös.

"Was ist?", fragt Jay leise.

Ich werfe ihm unsicher einen Blick zu, antworte "Nichts", während sich die Neuankömmlinge uns gegenüber auf einem der Baumstämme niederlassen. Eine von ihnen auf dem Schoß ihrer Begleitung, eine Bierflasche in Händen, die sie ihm an den Mund führt.

Ich verspanne mich. Während Jay flüstert: "Es ist okay. Sie schenken uns überhaupt keine Beachtung."

Ich sehe ihn an. Sein Gesicht ist so nah vor meinem, dass mein Herz ins Stolpern gerät, und ich sehe wieder zurück zu den anderen. "Ich mag solche Typen nicht, die ständig jemanden aufreißen müssen."

"Nein?"

Ich lächle nervös. "Entschuldige, ich habe mal schlechte Erfahrungen gemacht und jetzt ..."

Er hebt eine Fingerkuppe an meine Unterlippe und schüttelt kaum merklich den Kopf. "Ich weiß, was du meinst."

"Tust du?"

Er nickt stumm.

Ich senke das Kinn. Sehe auf meine Finger, die sich irgendwann in den letzten fünf Minuten mit seinen verschränkt haben. "Okay. Ich bin jedenfalls froh, dass du anders bist."

Als ich wieder aufblicke, spüre ich seinen Atem auf meiner Haut. Und das Braun seiner Iris ist fast vollständig gewichen. Ich kann es kaum noch ausmachen in dem flackernden Licht des Feuers.

Mein Atem stockt, als mein Blick seine Lippen trifft. Mir war nie bewusst, dass ich einen Mund einmal als so schön empfinden würde. So begehrenswert.

Er legt seine Hand um meinen Kiefer. Nicht so sanft, wie ich erwartet hätte, und die Aufmerksamkeit seiner Augen heftet sich auf mich. "Ich bin nicht anders, Rose. Ich bin genau das, wofür du mich von Anfang an gehalten hast. Und wäre dein Bruder nicht hier, wäre dein Herz morgen früh noch gebrochener als zuvor."

Er beugt sich vor, küsst mich, eine, zwei Sekunden, in denen ich seine Worte nicht begreife und mein Körper die Berührung auskostet als hätte er sie niemals ausgesprochen. Bevor er aufsteht, sich das Bier greift, das neben dem mittlerweile exzessiv knutschenden Pärchen im Dreck stand, es an die Lippen hebt und weggeht.

Ich blinzle, während die Kälte wieder Besitz von mir ergreift. Weil seine Jacke fehlt und seine Wärme – und weil mir jetzt wahrhaftig übel ist.

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Die Literaturagentur: Wozu ist sie gut und wie komme ich da rein?